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AL. Depression – Suizid

Arbeitslosigkeit & Depression:
Der Fluch der Leistungsgesellschaft
Hilflosigkeit, ein Gefühl von Wertlosigkeit, der Verlust jeder Struktur: Arbeitslosigkeit kann den Weg in die Depression ebnen, gleichzeitig laufen Patienten mit Depressionen erst recht Gefahr, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

Mit seinem Konzept der „gelernten Hilflosigkeit“ sorgte der amerikanische Psychologe Martin Seligman in den 60er und 70er Jahren für Aufsehen in der Welt der Wissenschaft: Tiere, aber auch Menschen, die über unangenehme Reize – etwa laute Geräusche – keine Kontrolle ausüben können, verhalten sich in einem hohen Prozentsatz „hilflos“, selbst wenn sie später durch eine einfache Reaktion – etwa einen Tastendruck – dem unangenehmen Reiz entfliehen können. Gemeinsam mit anderen Forschern erweiterte Seligman später seine Er-kenntnisse um den Attributionsstil: Wer die Erklärung für seine Hilflosigkeit vor allem in internen, stabilen und globalen Mustern sucht, sich etwa sagt, dass er arbeitslos wurde, weil er sowieso zu nichts taugt, wird umso eher depressiv reagieren. Mehr noch: „Je depressiver sie wurden, umso negativer wurde der Aspekt ihrer Erklärungsmuster“, schreibt Seligman in seinem Buch „Pessimisten küsst man nicht“ (Knaur). Das Seligman’sche Konzept als eine Erklärung für den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Depression heranzuziehen liegt nahe. „Es ist sicher eine hilfreiche Denkfigur“, bestätigt Dr. Michael Lenert, Arbeitspsychologe bei der Arbeiterkammer Wien. „Besonders wichtig ist der Aspekt des Kontrollverlustes: Arbeitslose geraten in eine Lebenssituation, in der sie kaum beeinflussen können, was mit ihnen passiert.“ Depressive Verstimmungen sind nur eine mögliche Folge. „Der Verlust des Arbeitsplatzes kann drastische Auswirkungen auf den seelischen und körperlichen Gesundheitszustand haben: Angst, ein Gefühl innerer Leere, Schlafstörungen oder leichte Ermüdbarkeit sind nur einige davon.“

„Arbeitslosigkeitsneurose“

Hinzu kommt, dass in der Gesellschaft nur der Wertschätzung erfährt, der Arbeit hat. „Das Gefühl, gebraucht zu werden, ist eng mit der Arbeitstätigkeit verbunden“, berichtet Lenert. Nicht selten versuchen Arbeitslose ihrer Familie und ihrem Bekanntenkreis gegenüber so lange es geht, den Schein zu wahren. „Manchen gelingt es sogar, eine Zeit lang vor ihrer eigenen Familie die Arbeitslosigkeit zu verheimlichen. Doch sobald zum Verlust der Arbeit finanzielle Probleme bis zu echten Existenzsorgen hinzukommen, gelingt dies kaum mehr.“ Dass die existenzielle Bedeutung des Berufes am deutlichsten sichtbar wird, wenn die berufliche Arbeit zur Gänze fortfällt, betont schon Viktor Frankl in seinem Werk „Ärztliche Seelsorge“. Er beschreibt die psychischen Folgen der Arbeitslosigkeit noch mit dem Begriff „Arbeitslosigkeitsneurose“: „Die Arbeitslosen werden zunehmend interesselos, und ihre Initiative versandet immer mehr.“ Die entstehende Apathie sei nicht ungefährlich, denn sie mache den Betroffenen unfähig, die helfende Hand zu ergreifen, meint Frankl. Gelegentlich könne die Arbeitslosigkeit für den „Neurotiker“ allerdings auch „Mittel zum Zweck“ sein – und zwar dann, wenn die Neurose bereits bestand und die Arbeitslosigkeit gleichsam als Material in die Neurose einfließt.

Ursache oder Wirkung?

Bei der Diskussion über den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Depression sind Ursache und Wirkung mitunter kaum zu trennen, betont Prim. Dr. Rainer Gross, Leiter der Sozialpsychiatrischen Abteilung am Krankenhaus Hollabrunn: „Die Arbeitswelt wird immer härter, und viele werden depressiv, weil sie dem Druck nicht mehr standhalten“, meint Gross. Der Kündigungsschutz reiche meist nicht aus, und lange Krankenstände führen immer häufiger zu Entlassungen. „Wir haben viele Patienten mit wackelnden Arbeitsplätzen, und es ist oft ein Balanceakt, Patienten mit einer Restsymptomatik zurück an den Arbeitsplatz zu schicken oder durch die längere Behandlung erst recht den Verlust des Arbeitsplatzes zu riskieren.“ Genauso kennt Gross das Phänomen der Depression als Folge der Arbeitslosigkeit: Etwa 100 arbeitslose Patienten mit affektiven Störungen werden pro Jahr an seiner Abteilung behandelt. „Wer über 50 ist und als schwer vermittelbar gilt, ist ganz besonders gefährdet. Hinzu kommt häufig der Versuch einer Selbstbe-handlung mit Alkohol.“ Besonders drastisch werden die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit empfunden, wenn Gesellschaft und Medien einem ständig vor Augen führen, wie leicht der Aufstieg auf der Karriereleiter sei. „Es ist kein Wunder, wenn sich arbeitslose Menschen die Sinnfrage stellen.“ Ihnen zu empfehlen, sie müssten sich nur eine andere sinnstiftende Tätigkeit suchen, sei beinahe zynisch.

Männer häufiger betroffen

Aus seiner Erfahrung weiß Gross auch, dass Männer häufiger mit Depressionen auf Arbeitslosigkeit reagieren als Frauen. „Für Männer ist der Verlust der Arbeit eine noch größere narzisstische Kränkung.“ Frauen könnten dagegen den Verlust des Arbeitsplatzes leichter durch ihren stärkeren Bezug zur Familie kompensieren. „Ein Familienvater, der den Arbeitsplatz verliert und an einer Depression erkrankt, springt nicht automatisch als Hausmann ein“, betont Gross. Gerade bei arbeitslosen, depressiven Patienten müsse man sich in der Behandlung auf die kognitiven Aspekte konzentrieren. „Wir müssen den Angehörigen sagen, dass es sich um eine Erkrankung handelt, die es dem Betroffenen vielleicht gar nicht möglich macht, andere Aufgaben zu übernehmen oder Fortbildungen zu absolvieren. Wir müssen aber auch betonen, dass die depressionsbedingte kognitive Beeinträchtigung durch die Behandlung wieder verschwindet“, sagt Gross. Depressive Patienten quälen sich mitunter enorm, weil sie fürchten, dement zu werden.

Krisenintervention

Dass die psychischen Folgen von Arbeitslosigkeit Menschen in schwere Krisen bis hin zur Suizidalität stürzen können, wissen die Psychiater des Wiener Kriseninterventionszentrums. Trauerreaktionen und selbstdestruktive Impulse sind oft als Reaktionen auf den Arbeitsplatzverlust zu finden und können gleichzeitig zu Depressivität, Depression und suizidaler Einengung führen, erklärt Univ.-Prof. Dr. Gernot Sonneck in seinem Buch „Krisenintervention und Suizidverhütung“ (Facultas). „Das ständige Erleben von Erfolglosigkeit bei vergeblichen Bewerbungen, Ziele die nicht erreicht werden – das fördert eine Entwicklung zur Passivität, und die Krise kann alleine kaum gelöst werden“, bestätigt der Ärztliche Leiter des Kriseninterventionszentrums (KIZ) Dr. Claudius Stein. Rund 15% der Klienten, die sich an das KIZ wenden, sind ohne Arbeit. Langfristige Hilfe abseits der akuten Krisenintervention sei jedoch nicht einfach zu vermitteln – meist ist eine längere Psychotherapie erforderlich, dafür gibt es aber wiederum zu wenig Kassenplätze.

Krankenschein vom AMS

Die Situation arbeitsloser, psychisch Kranker war auch dem Wiener Neurologen und Psychiater Dr. Albert Wuschitz ein Anlass, via Presseaussendung auf das Thema aufmerksam zu machen. Alleine im ersten Quartal dieses Jahres hatten 15 Prozent seiner Patienten einen Krankenschein vom Arbeitsmarktservice (AMS). „Die Menschen fühlen sich kaum unterstützt: Es ist, als ob ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen wird“, ergänzt Wuschitz gegenüber CliniCum psy. Viele der arbeitslosen Patienten kämen schon mit manifesten Symptomen einer Depression in seine Ordination und benötigen eine psychopharmakologische Behandlung. Auf einen alarmierenden Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und schlechtem, vor allem psychisch schlechtem Gesundheitszustand verweist zudem eine aktuelle Untersuchung aus Deutschland. „Es ist ein Teufelskreis: Zum einen sind Menschen, die kränker sind, eher von Arbeitslosigkeit bedroht als Gesunde. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass Arbeitslosigkeit Krankheit bedingt – unter anderem durch die finanzielle Unsicherheit und den Wegfall der Tagesstruktur“, betont Studienautorin Anne Kathrin Stich, Sozialpädagogin am Studiengang Gesundheitswissenschaften der Technischen Universität Berlin. Die Kernaussage ihrer Studie: Arbeitslose bewerten ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität deutlich schlechter als Erwerbstätige, wobei die Resultate unabhängig von Alter und Familiensituation sind. Insgesamt zeigten sich die gesundheitlichen Auswirkungen bei Männern drastischer als bei Frauen. „Ein möglicher Grund dafür ist, dass Frauen mit Lebenskrisen anders umgehen als Männer“, bestätigt Stich.

Wiener Studie

Eine kürzlich abgeschlossene Untersuchung, die gemeinsam vom AMS und von der Klinisichen Abteilung für Arbeitsmedizin am Wiener AKH durchgeführt wurde, deutet ebenfalls darauf hin, dass sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit der psychische wie physische Gesundheitszustand verschlechtert. Als unmittelbare Reaktion auf die Studienergebnisse soll spätestens im Jänner 2006 ein Pilotprojekt gestartet werden. „Es handelt sich dabei um ein Drei-Säulen-Interventionsprogramm, das neben medizinischer und psychologischer Beratung auch ein Wirtschaftscoaching umfasst“, sagt Mag. Andrea Egger, Klinische und Gesundheitspsychologin. Veröffentlicht werden die Ergebnisse der Studie noch in diesem Herbst.

Suche nach Angeboten

Den Kreislauf zu durchbrechen und eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erreichen ist trotz mehrfacher Bemühungen für manche so gut wie unmöglich. Einrichtungen wie das Berufliche Bildungsund Rehabilitationszentrum (BBRZ) bieten zwar Orientierungsmaßnahmen und Arbeitstrainings für arbeitslose Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, wobei die Erfolgsquote bei rund 50 Prozent liegt. Die Nachfrage durch Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ist jedoch in letzter Zeit deutlich angestiegen, schildert Roman Ruprecht, Abteilungsleiter für Kundenservice beim BBRZ Wien. Ebenso im Vormarsch sind Krankenstandszahlen sowie die Zahl der als arbeitslos gemeldeten Personen: Laut AMS Österreich gab es Anfang Juli rund 211.000 Arbeitslose, das entspricht einer Zunahme um 4,2 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Ein Vorschlag des Wiener Neurologen und Psychiaters Wuschitz lautet daher, für Arbeitslose und an Depressionen Erkrankte eigene Selbsthilfegruppe einzurichten: „Der Kontakt zu Menschen in ähnlichen Situationen kann Hoffnung geben und das Selbstwertgefühl heben“, meint Wuschitz.

Selbsthilfe

„Man muss nicht unbedingt Fachmann sein, um den Zusammenhang zwischen Depression und Arbeitslosigkeit zu erkennen“, sagt Carla Stanek von der Selbsthilfegruppe D&A – Depression und Angst. Die Patientenvertreterin beurteilt die Situation der Hilfsangebote jedoch weit weniger drastisch als die Ärzte: „Es gibt Therapeuten, die Sozialplätze anbieten und Kassenplätze für Psychotherapie, wenn auch mit entsprechend langer Wartezeit.“ In vielen Fällen, so die Erfahrung von Stanek, wären zwar finanzielle Mittel für Therapien vorhanden, „alleine die Menschen sind immer weniger bereit, Geld dafür auszugeben.“ Der Club D&A selbst bietet etwa Gesprächsrunden „zu einem ganz niedrigen Preis“ an. „Bei uns gibt es aber kein gemütliches Elend: Es darf zwar gejammert werden, aber irgendwann müssen Betroffene die Bereitschaft zeigen, dass sie wieder gesund werden wollen.“ Stanek plädiert darüber hinaus für ein verstärktes Engagement bei der Arbeitssuche. „Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die sich etwa infolge von Scheidungen zunächst mit einer Tätigkeit unter ihrem Niveau zufrieden geben mussten, es dann aber wieder geschafft haben, nach oben zu kommen.“ Schwieriger sei es jedoch, wenn jemand aufgrund einer depressiven Störung den Arbeitsplatz verliert. „Langsam ist jedoch in der Arbeitswelt ein Sinneswandel festzustellen. Wenn sich jemand total verausgabt, bis hin zu Burn-out und Depression, mit seinem Vorgesetzten offen spricht und ihn um eine Aus-Zeit bittet, dann stößt er mitunter auf Verständnis – vielleicht outet sich der Chef sogar selbst und sagt, dass er eine solche Situation schon erlebt hat.“

Schutzfaktoren?

Letztlich sollte die Tatsache Anlass zur Hoffnung geben, dass Menschen trotz Schicksalsschlägen wie unverschuldeter Kündigung und Arbeitslosigkeit seelisch gesund bleiben und nicht verzweifeln. Bereits Viktor Frankl oder Martin Seligman weisen in ihren Büchern darauf hin: Mag es auf eine optimistischere Lebenseinstellung (Seligman) zurückzuführen sein oder auf die Tatsche, dass sich die Menschen zwar nicht mehr beruflich, sondern anderweitig – etwa als freiwillige Helfer in Organisationen – engagieren (Frankl). Jedenfalls scheint es Schutzfaktoren zu geben, die zu erforschen der Wissenschaft allerdings noch immer Rätsel aufgibt. „Wie wir aus jüngsten psychobiologischen Forschungsarbeiten wissen, trägt die genetische Ausstattung zur Entstehung von Depressionen bei – wie weit die Gene aber freigeschalten werden, da spielt wiederum die Umwelt eine entscheidende Rolle“, betont Gross.
Sozialstudie aus den 30er Jahren
Es war eine der ersten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen überhaupt, und sie dient bis heute als Paradebeispiel der empirischen Sozialforschung: „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel. Erstmals 1933 veröffentlicht, wird darin die psychologische Situation einer Population
Arbeitsloser in der niederösterreichischen Gemeinde Marienthal exakt dokumentiert. Detailliert beschreiben die Wissenschafter, wie der Verlust der Arbeit infolge Stilllegung der nahen Fabrik zum Verlust von Sinnzusammenhang, Orientierung und Fixpunkten führt – vor allem bei Männern. „Der Tag der Frauen ist von Arbeit erfüllt: sie kochen und scheuern, sie flicken und versorgen die Kinder, (…)“, heißt es in der Studie.
Für die arbeitslosen Männer dagegen folgt nach mehr als 100 vergeblichen Bewerbungen, „irgendwo anders unterzukommen“, oft der Absturz: „Der Absturz tritt gewöhnlich dann ein, wenn Ehrgeiz und große Ansprüche früher das Leben des Betreffenden beherrscht haben“, schreiben Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel. „Die Studie zeigt aber auch, dass es eine Gruppe gab, die an der Arbeitslosigkeit nicht zerbrach: es waren vor allem jene, die sich politisch engagierten“, erklärt dazu Psychiater Dr. Rainer Gross. Im Unterschied zur Situation in den 30er Jahren gibt es für Arbeitslose heute aber einen weiteren gravierenden Nachteil: „Damals wurde die Arbeitslosigkeit auf die schlechte wirtschaftliche Situation zurückgeführt, heute wird Arbeitslosigkeit noch viel mehr als individuelles Versagen erlebt und damit der Kreislauf aus Schuldgefühlen und neuerlichem Versagen erst recht in Gang gesetzt.“


Von Mag. Christina Maria Hack


Eine aktuelle Untersuchung des AMS und der Klinisichen Abteilung für Arbeitsmedizin am Wiener AKH deutet darauf hin, dass sich mit der Dauer der Arbeitslosigkeit der psychische wie physische Gesundheitszustand verschlechtert.

Quelle: © MMA, CliniCum psy 4/2005
15.1.2006


DIE ARBEITSLOSIGKEIT UND IHRE PSYCHOSOZIALEN FOLGEN

Arbeitslose werden andere Menschen

Arbeitslosigkeit ist eine besondere Form der psychosozialen Zermürbung. Das ist den wenigsten bewusst, die sich eines sicheren Arbeitsplatzes erfreuen können. Denn Untätigkeit ist nicht Freizeit. Man kann nicht gegen seinen Willen „ausspannen“ – und zwar endlos. Sonst droht man körperlich inaktiv, geistig träge, seelisch instabil zu werden und schließlich sogar Kontaktfähigkeit und Selbstachtung zu verlieren.

Was kann man tun?

„Arbeitslose werden andere Menschen“, heißt es. Stimmt das wirklich? Schließlich gibt es auch die andere Vermutung: Nicht wenigen Betroffenen kommt die derzeitige Arbeitsmarktlage nur gelegen. „Es gibt mehr Drückeberger als man denkt“, heißt es oft hinter vorgehaltener Hand.
Doch einmal davon abgesehen, dass es in allen Bereichen des Lebens „solche und solche“ gibt, gilt die Arbeitslosigkeit als eine schwere Belastung. Arbeit ist und bleibt nun einmal das Rückgrat des Alltags und für viele Menschen ein psychosozialer Stabilisierungsfaktor. Dies auch im Rentenalter, wo man sich zur Strukturierung des Tagesablaufs seinen eigenen Beschäftigungsplan schafften sollte.
Nachfolgend deshalb eine kurzgefasste Übersicht zu diesem Problem, das volkswirtschaftlich und psychosozial offensichtlich nicht in den Griff zu bekommen ist.

Die Arbeitslosigkeit und ihre psychosozialen Folgen

Zwar gab es Arbeitslosigkeit schon früher, und zwar ausgeprägter, wie sich die ältere Generation noch mit Schaudern erinnert. Doch lässt sie sich gerade in einer Zeit der Konsum-Ideologie und des Wohlstands besonders schlecht verkraften. Früher stand auch die (allgemeine) materielle Not im Vordergrund. Heute sind es vor allem die seelischen, psychosozialen und schließlich sogar psychosomatisch interpretierbaren Auswirkungen (unverarbeitete seelische Probleme äußern sich körperlich), die die Konsequenzen für den Einzelnen, seine Familie und sogar seinen Freundeskreis bestimmen.

Von der Entlassung bis zur Pseudo-Beschäftigung

Dabei führt der „Schock“ der Arbeitslosigkeit oder drohenden Entlassung in vielen Fällen erst einmal zur Mobilisierung aller Kräfte und zu einer – bisweilen fast vordergründig intensivierten – optimistischen Einstellung.
Mit entsprechende Folgen ist in der Regel erst nach mehreren (3 bis 12?) Monaten zu rechnen. In dieser Zeit muss der Betroffene bestimmte Erkenntnisse verkraften:
– Untätigkeit ist nicht Freizeit. Was im Übermaß vorhanden ist, verliert an Wert.
– Selbst entsprechende Freizeit-, Weiterbildungs- und Umschulungsangebote können dadurch zur Belastung werden.
– Man kann nicht wochen- und monatelang entspannen, das wird zum Stress eigener Art.
– Das Zeitgefühl geht verloren. Man kann sich nicht mehr recht erinnern, was man selbst die letzten Tage gemacht hat.
– Der geistige und körperliche Trainingsverlust führt dazu, dass selbst banale Aufgaben immer anstrengender werden.
– Berufsarbeit und Arbeitsplatz sind für viele noch immer die zentrale Lebenssphäre, auf jeden Fall ein Ort der Geselligkeit, der Kontakte, des geistigen und gemütsmäßigen Austauschs. Das realisiert man erst als Arbeitsloser.
– Die Betroffenen verlieren langsam an Selbstachtung. Es beginnt ein neues, ungewolltes Verhältnis zur gewohnten Umwelt, zu Freunden, Bekannten, Nachbarn, ehemaligen Arbeitskollegen.
– Die Pseudo-Beschäftigungen werden immer unerträglicher: „Man weiß bald nicht mehr was man tun soll, um überhaupt etwas zu tun“.
– Die einseitig materiell ausgerichtete Wertwelt unserer Zeit zwingt dem Arbeitslosen Schuldgefühle auf („Menschen zweiter Klasse“). Dies betrifft offenbar vor allem ältere Männer.

Ein vielschichtiges Beschwerdebild

So lässt auch ein seelisches, psychosoziales, psychosomatisches und schließlich sogar organisches Beschwerdebild bisweilen nicht lange auf sich warten:
– In seelischer Hinsicht sind manche Betroffene zunehmend verunsichert, verzagt, resigniert, verstimmt, ja bedrückt und niedergeschlagen, auf jeden Fall leicht verletzlich und kränkbar, pessimistisch, schließlich negativistisch („schwarze Brille“), vorwurfsvoll, missgestimmt-mürrisch, reizbar, ja aufbrausend bis aggressiv, wenn nicht gar feindselig.
Es häufen sich Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Entscheidungsunfähigkeit, ängstlich-hilfloses Abwiegen selbst banaler Fragestellungen und Aufgaben, schließlich dauerndes Gedankenkreisen, Grübeln und zuletzt hypochondrische Befürchtungen.
– In körperlicher Hinsicht sind es vor allem psychosomatisch interpretierbare Beschwerden ohne krankhaften organischen Befund: Kopfdruck, allgemeine, schwer abgrenzende, häufig auch wandernde Missempfindungen.
Nicht selten auch sogenannte vegetative Entgleisungen (Hitzewallungen, Kälteschauer, erhöhte Temperaturempfindlichkeit), sowie Störungen von Herz und Kreislauf, Atmung, Magen-Darm, Schlaf u. a.
– Und schließlich sogar bestimmte psychosozialen Folgen: Die meisten entzünden sich an den seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen (siehe oben). Es kann aber auch zu extremen Konsequenzen kommen wie vermehrte Eigentumsdelikte, ja Zunahme von Gewalttätigkeit, vor allem gegenüber Kindern und Tieren und zuletzt zu einer gefährlichen Suizidalität (Selbsttötungsneigung).
Das muss zwar nicht sein, ist zwar in der einen oder anderen Form nicht auszuschließen, bleibt in der Regel“unterschwellig“ und damit meist nur für den engeren Verwandten- und Freundeskreis erkennbar; die Allgemeinheit merkt davon in Regel nichts bzw. wird ja auch ganz bewusst, weil „schambesetzt“, in Unkenntnis gelassen. Auch pflegen die psychosozialen Folgen erst nach einiger Zeit zum ernsteren Problem zu werden.

Wenn trifft es am stärksten?

Männer, insbesondere alleinstehende scheinen stärker belastet zu sein. Frauen können sich offenbar eher wieder in die Familie integrieren. Am härtesten sind ältere Arbeitslose betroffen, insbesondere jenseits der 50. Jüngere, die noch nicht von einem jahrzehntelangen Arbeitsrhythmus geprägt sind, überwinden diesen Bruch meist besser. Auch haben sie mitunter andere Ideale als „nur“ Arbeit und Leistung.
Und zwei weitere Aspekte gilt es zu berücksichtigen, weil meist unbeachtet:
Arbeitslose, die an ihrem Beruf hängen, leiden naturgemäß stärker als jene, denen nur ein Job verloren gegangen ist.
Psychisch Gestörte oder Kranke sind oftmals die ersten, die ihre Stellung verlieren. Sie trifft dieser Verlust noch härter.

Was kann man tun?

Das Wichtigste ist, nicht den Glauben an sich selber zu verlieren. Und beharrlich auf der Suche zu sein. Und vielleicht auch einmal eine Aufgabe anzunehmen, die früher undenkbar oder gar als „unter aller Würde“ eingestuft worden wäre.
Genauso wichtig: trotz Selbstwertproblematik Kontakt halten, sich nicht zurückzuziehen, sich nicht zu isolieren und damit zu vereinsamen.
Und was die befürchteten „hämischen“ Kommentare anbelangt, so mag zwar jeder Arbeitslose genügend Gegenbeispiele gesammelt haben, aber eines ist doch auch wieder erstaunlich: Die meisten Menschen sind letzten Endes hilfreicher und toleranter, als man denkt. Wer weiß auch, ob er nicht morgen selber dran ist. Das lässt zumindest einige Mitbürger mit Weitblick etwas vorsichtiger argumentieren und handeln.
Und was können Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und alle anderen Institutionen tun, die sich mit dem psychosozialen Problem der Arbeitslosigkeit konfrontiert sehen? Vor allem stützende Gespräche anbieten. Denn schon der antike Arzt Hippokrates empfahl vor rund 2.500 Jahren: „Für was ich Worte habe, darüber bin ich schon hinweg“.
Dann eine konsequente Anleitung zu geistigem und körperlichem Training (nicht erlahmen lassen, immer wieder nachfassen). Und eine enge Zusammenarbeit mit der Familie, denn gemeinsam ist man stärker.
Bei Alleinstehenden regelmäßige Kontakte, um das fehlende Umfeld zu ersetzen und zeitliche und gemütsmäßige Fixpunkte zu schaffen.
Und bei allem Vorsicht vor Psychopharmaka oder anderen Arzneimitteln mit Wirkung auf das Seelenleben (nur mit ärztlicher Anordnung). Hier gilt es besonders auf die früher zu großzügig verordneten Beruhigungsmittel zu achten, die nicht nur seelisch entlasten, besonders entängstigen, sondern auch „abschotten“, ja gleichgültig oder gar „wurstig“ und damit initiativelos machen können (Fachausdruck: Indolenz-Syndrom). Ähnliches gilt auch für den unkritischen Einsatz von Schlaf- und Schmerzmitteln.
Dafür lieber Entspannungsverfahren lernen (Autogenes Training, Yoga, Progressive Muskelrelaxation). Und für tägliche körperliche Aktivität sorgen, und zwar bei Tageslicht. Denn das wirkt gegen Stimmungstiefs und Angstzustände, besonders in den ohnehin deprimierenden dunklen Wintermonaten. Niemand verlangt von einem vor allem älteren Mitbürger, dass er seine früheren sportlichen Aktivitäten erneuert. Ein „täglicher Gesundmarsch“ sollte aber schon drin sein, sonst darf man sich nicht wundern, wenn zuerst die körperliche, schließlich die geistige und zuletzt die seelische Stabilität ins Wanken gerät – auch und vor allem als jemand, dem zur Zeit die tägliche Arbeitsstrukturierung entzogen ist (Prof. Dr. med. Volker Faust).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.

Quelle: Psychosoziale-Gesundheit

29.01.2006

Psychologische Probleme der Arbeitslosigkeit

Der Abbau traditioneller Bindungen (Glaubensgemeinschaften, Familie) und der Übergang von einer Pflichtethik zu einer Entfaltungsethik machen die Selbstverwirklichung zum Leitbild, sodass Misserfolge als Zeichen individueller Untüchtigkeit gelten und nicht als Folge von Umständen. Diese Individualisierung ist häufig mit Isolierung verbunden, wobei neue Formen der Vergemeinschaftung (Cliquen, WGs, Sekten u. Ä..) wenig Unterstützung bieten. Für die aktuelle Jugendszene sind Hedonismus und Gegenwartsorientierung kennzeichnend, wobei es in der Jugendphase darum geht, „Spaß“ zu haben, das Leben zu genießen, und eher wenig an eine schwer vorhersehbare Zukunft zu denken. Dies führt u.U. auch zu überhöhten Ansprüchen an Beruf und Arbeitsplatz. Wenn ein Beruf den persönlichen Ansprüchen nach Selbstverwirklichung nicht entspricht, kommt es zu frühzeitigen Auflösungen von Arbeitsbeziehungen.

Eine kurzfristige Arbeitslosigkeit ist für die Mehrzahl Jugendlicher heute eine normale und deshalb wenig abschreckende Erfahrung, jedoch eine langfristige Arbeitslosigkeit vermittelt neben der Chancenlosigkeit am Arbeitsmarkt auch eine im Leben, die zur Suche nach anderen Überlebensformen führt. Arbeitslosigkeit ist daher als eine Ursache für die Erhöhung der Delinquenzgefährdung bei Jugendlichen zu sehen, wobei berücksichtigt werden muss, dass der erklärende Schluss keine Prognose bedeutet.

Die negativen Folgewirkungen längerer Arbeitslosigkeit sind in einer Vielzahl von Untersuchungen nachgewiesen (siehe Tabelle). Mit zunehmender Dauer kommt es nicht nur zu finanziellen Belastungen und Einschränkungen, sondern zu teilweise massiven Beeinträchtigungen des psychischen und körperlichen Wohlbefindens. Die Erfahrung keine Arbeit zu haben bzw. „nicht gebraucht zu werden“ führt zu weit reichenden Entwicklungsbeeinträchtigungen, sodass die Handlungsbereitschaft sinkt, das Selbstvertrauen und die eigene Wertschätzung abnehmen, das Zeitgefühl sowie soziale Kontakte verloren gehen, und aggressive und apathische Verhaltensweisen zunehmen. Jugendliche ohne qualifizierte Bildungsabschlüsse reduzieren ihre persönlichen Ansprüche und Lebensziele, es kommt häufig zur psychischen Destabilisierung bis zur Depressivität. Arbeitslose mit entsprechenden psychischen und physischen Problemen haben natürlich noch weniger Chancen, eine Arbeit zu finden. Untersuchungen bei wenig Qualifizierten in schwierigen Beschäftigungsverhältnissen zeigten, dass etwa bei einem Viertel sinnhaft-subjektbezogene Erwartungen an die Arbeit (Selbstverwirklichung, Sozialkontakt, soziale Anerkennung) in den Hintergrund treten und eine defensive Anspruchshaltung dominiert, die durch eine Betonung materieller Interessen und die Abwehr von Arbeitsbelastungen charakterisiert ist. Für viele Jugendliche geht durch eine frühe Arbeitslosigkeit damit auch jeglicher Bezug zur Ausübung eines Berufes verloren – sofern er überhaupt entwickelt werden konnte – und reduziert sich auf den Faktor der finanziellen Absicherung.

Im Hinblick auf Langzeitarbeitslosigkeit gibt es unterschiedliche Anpassungsstrategien: Die resignative Anpassung ist gekennzeichnet durch eine zunächst leichte Verbesserung des psychischen Wohlbefindens, das aber deutlich unter demjenigen von Menschen in Beschäftigung bleibt. Bei einer konstruktiven Anpassung kompensieren Arbeitslose den Verlust der latenten individual- und sozialpsychologischen Funktionen von Arbeit mit anderen sozialen Aktivitäten (Hobbies, Schwarzarbeit, soziale Kontakte). Einige Faktoren verschärfen auch die bestehenden Anpassungsprobleme: persönliche, familiäre oder gesundheitliche Krisen, die während der Berufstätigkeit vom Einzelnen zumindest einigermaßen bewältigt werden können, führen in der Situation der Arbeitslosigkeit zu einer Überforderung bzw. zu einer Erhöhung der individuellen Verletzlichkeit. Dieser Verstärkungseffekt ist mitverantwortlich für die beobachtbare psychosoziale Problemdichte von vielen Langzeitarbeitslosen.

Obwohl ein direkter Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kriminalität kaum nachzuweisen ist, verleiten Einzelfälle auch Experten manchmal zu einer fragwürdigen Generalisierung. Jedoch sind unausgefüllte Ziele, Langeweile, Spannungsarmut und sinkender Abwechslungs- und Alternativreichtum ein Nährboden für abweichendes Verhalten. Die psychosozialen Belastungen führen über Selbstzweifel und Schuldgefühle zu innerer Aggressivität, sodass sich Formen der Realitätsflucht durch Alkohol und andere Drogen bis hin zur offenen Aggressivität entwickeln können. Die im Jugendalter latent vorhandenen Konfliktpotenziale verstärken sich dann im Einzelfall in kleinen „Geschäften“ am Rande der Legalität. Man vermutet, dass der Anstieg von Jugendarbeitslosigkeit mit der Zahl der Selbstmorde korreliert, auch wenn heute Aggressionen eher nach aussen gerichtet werden.

Durch einen erzwungenen Rückzug in die Familie wird der ohnehin konfliktträchtige Ablösungsprozess verzögert, und stellt die Jugendlichen erneut unter bestehende elterliche Werte und Normen. In dieser Verzögerung bzw. Verspätung des sozialen Reifungsprozesses kann die größte Gefahr der Dauererwerbslosigkeit von Jugendlichen gesehen werden. Soziale Entwicklungsdefizite und der Verlust von Berufs- und Zukunftsperspektiven machen die davon Betroffenen beinahe zwangsläufig zu Problemgruppen von heute und Randgruppen von morgen. Solche Entwicklungsregressionen befördern einer Art von „Zwangsinfantilität“.

Weibliche Jugendliche haben eher Schwierigkeiten in der Berufsausbildung, da sie sich neben dem Erlernen ihres Berufes nach traditionellen Vorstellungen auch mit den Aufgaben und Pflichten einer Frau in der modernen Gesellschaft vertraut machen sollen. Gründe für die geringe Eigeninitiative zu einer Berufsausbildung sind daher einerseits in der geschlechtsspezifischen Erziehung in der Familie zu finden, andererseits an der an Ehe, Haushalt und Familie orientierten Lebensplanung, die teilweise schon von Kindheit an vermittelt wird.

Viele Frauen bevorzugen eine Kurzausbildung, jedoch bleiben technische Berufsmöglichkeiten auch heute noch häufig unbeachtet. Während in den letzten Jahren 30 neue Lehrberufe geschaffen wurden, übernehmen Mädchen noch immer traditionelle „Lehrberufe“, von denen zwei Drittel in nur fünf Lehrberufen ausgebildet werden.

Selbst bei guter Konjunktur war es selten möglich, jährlich mehr als durchschnittlich 40% der Lehrstellenbewerberinnen unterzubringen, aber der beobachtbare Wertewandel wird vorwiegend von den weiblichen Heranwachsenden getragen, denn Mädchen sind heute ehrgeiziger und auch selbstbewusster. „Karriere machen“, „sich selbstständig machen“ und „Verantwortung übernehmen“ ist für sie ebenso wichtig wie für Burschen. Daraus resultieren besondere Ansprüche an den Arbeitsmarkt, die dieser in einer prekären wirtschaftlichen Situation nur unzureichend erfüllen kann. Auf Grund dieses im Hinblick auf die Berufstätigkeit veränderten und eher egalitären Rollenbildes wirkt sich die Arbeitslosigkeit bei weiblichen Jugendlichen psychologisch kaum anders aus als bei männlichen Betroffenen.

Quelle: werner stangl: Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Jugendliche aus psychologischer Sicht
19.03.2006


Der Preis der Armut
Über die psychischen Folgeschäden von Arbeitslosigkeit

Die einen stehen im Licht, die anderen sieht man nicht, lautet eine
bekannte Redewendung. Falsch, denn die anderen sieht man immer mehr: Es sind
die Hartz IV-Arbeitslosen, die Abgebauten. Das Leben ist schön für „die da
oben“, für die anderen auf den Abstiegsplätzen ist kein Platz.
Schick ist sie nicht, die Armut. Sie ist teuer, sie hat ihren Preis. Der
Soziologe Axel Honneth beobachtet eine Drift zwischen den privaten und
sozialen Lebenswelten der Betroffenen, mit schwer wiegenden Folgen: „Ich
glaube, schon heute zeichnet sich ab, welche zum Teil krassen Formen der
Dezivilisierung und Barbarisierung es mit sich bringt. Die verwilderten
Zustände in den privaten Haushalten, in denen der Arbeitsalltag nicht mehr
den Rhythmus bestimmt, in denen der Rhythmus des familiären Lebens nicht
mehr rückgekoppelt ist an den Rhythmus des sozialen Lebens. Das hat für uns
alle einen gar nicht artikulierten und gar nicht reflektierten Zusammenhang
und eine Art von organisierender Kraft, das organisiert unsere Identität.“

Das Gefühl der Ohnmacht

Ich arbeite, also bin ich. Was aber bin ich ohne Arbeit? Armut bedeutet für
viele ein Leben mit Alkohol, Fernsehen, schlechtem Essen und Stillstand. Es
geht eine Charakterveränderung vor sich, eine gesellschaftliche
Deformation – man ist scheinlebendig. „In dem Moment, wo ich merke, ich will
arbeiten, kann aber nicht, muss ich auch gegenüber meinen anderen
Familienmitgliedern vertreten, warum es so ist“, erklärt Ulrich Schneider
vom Paritätischen Wohlfahrtsverband die Situation Arbeitsloser, „und zwar in
einer Form vertreten, in der ich auch nicht schuld bin – was objektiv meist
auch nicht der Fall ist. Über die Frage, wer eigentlich schuld sei an der
eigenen Arbeitslosigkeit, entwickelt man dann Gesellschaftsbilder, in der
Feinde auftauchen oder man entwickelt vielleicht sogar Gesellschaftsbilder,
die in so etwas wie Fatalismus übergehen, nach dem Motto ‚Ich kann sowieso
nichts ändern‘ – denn das ist die Erfahrung, die man macht'“.

Axel Honneth

Zuschauer und Akteure des kaputten Lebens

Richtungslosigkeit desorientiert den Menschen psychisch und sie zerstört ihn
langfristig, denn er verliert jedes Zeitgefühl. „Vereinzelung befördert den
Verlust des Rahmens. Man baut sich dann einen Lebensstil, der diffus ist,
zerfließt und nur noch rezeptiv ist. Die Massenmedien, das Fernsehen, sind
das beste Beispiel dafür, keine Anreize, auch keine sozialen Anreize von
außen mehr zu bekommen, um sich ein anderes Leben überhaupt vorstellbar
machen zu können“, so der Soziologe Paul Nolte. Selbstverantwortung statt
Fürsorge lautet das neue Ziel der Politik. Aber wie einem Hoffnungslosen von
Zukunft erzählen? Jenem, der schon lange nicht mehr zur Wahlurne geht. Der
Psychologe Peter Winterhoff-Spurk untersucht die psychischen Belastungen,
die Arbeitslosigkeit mit sich bringen kann: „Das ordnende Schema, das dem
Tag eine Ordnung, eine Struktur gibt, geht verloren. Nicht bei allen, aber
bei vielen. Man fließt dann so in den Tag hinein und ist auch geneigt,
Dingen ohne einen Zeitrahmen nachzugehen, wie zum Beispiel sich vor den
Fernseher zu legen und ihn laufen zu lassen.“ Die sozial Schwachen sehen
tagelang fern, sie sind Zuschauer des kaputten Lebens: Programme der
Verwahrlosung – vor und hinter der Mattscheibe.

Ulrich Schneider

Verlust von Horizonten

„Jetzt haben wir eine Phase der relativen Simplizität“, so Nolte, „in der
die Konsumenten des Programms selber ins Studio eingeladen werden. Die
Menschen, die vormittags und nachmittags diesen Sendungen zusehen, sehen
eigentlich sich selber, sie wollen sich selber sehen: Man sieht leicht
Überernährte, welche mit Tattoos und sich nicht richtig Artikulierende. Man
beobachtet gewissermaßen sich selbst – auch das ist ein Teil dieses
Verlustes von Werten, von Horizonten“. Orale Regression konstatiert der
Psychologe: Ein Abwehrmechanismus, der einen in kindliche Entwicklungsstufen
zurückfallen lässt. „Gerade in einer Lebenssituation, die unbefriedigend
ist“, erläutert Winterhoff-Spurk, „tut es mir gut, wenn ich vom Medium in
Situationen geführt werde, in denen ich sehe, dass es anderen noch viel
schlechter geht. Das erreiche ich zum Beispiel, indem ich Nachrichten sehe,
und zwar besonders diejenigen, die voller Gewalt und Elend sind. Aber
natürlich auch Unterhaltungsfilme mit einem hohen Anteil an Gewalt, lösen
diese Effekte aus. Wir haben also zwei Motive: Das eine ist das
Sich-Zurücklehnen-Wollen, das Umsorgt-Werden-Wollen und das andere ist das
Angstlust-Motiv“.

Paul Nolte

Kaufen statt leben

Kauflust – in manch armen Haushalt ist Elektronik eine Art
Grundnahrungsmittel geworden. Demonstrativ wird konsumiert. Passivität
schlägt um in aggressives Fordern von Dingen: ‚Das steht mir zu‘. Die
Verkäufer freuen sich – Schulden zu machen, ist üblich. „Man könnte
überspitzt sagen“, so Nolte, „dass wir so weit gekommen sind, dass Konsum
eine Form der Armut geradezu ist“. Gameboys, Playstation, Walkmen, Discmen
und andere kleine, elektronische Unterhaltungsmedien werden nicht selten wie
Wegwerfartikel verbraucht – und immer wieder neu gekauft. Winterhoff-Spurk
sieht in diesem Verhalten den Wunsch, sich mit Symbolen des Wohlstands zu
umgeben, denn „wenn man schon arm ist und in einer Umgebung lebt, die einem
das jeden Tag zeigt – zum Beispiel wenn ich die Haustür aufmache, und ich
bin in einer 15-stöckigen Wohnlegebatterie mit Graffiti im Flur,
abgerissenen Papierkörben und alten Autos vor der Tür zu Hause – dann will
ich auch eine Welt haben, in der ich zeigen und erleben kann, dass es mir
eigentlich nicht schlecht geht“.

Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, Vertrauen, Leistungsbereitschaft, Bildung,
Erfolg und gemeinsame Werte – dies alles hält eine Arbeitsgesellschaft
zusammen. In unseren Sozialgettos jedoch zerfällt gerade dieser
Zusammenhalt.

Peter Winterhoff-Spurk

Quelle: 3sat.de


60 % mehr Krankenstandstage durch psychische Krankheiten

OTS0036 5 CI 0303 AKN0001 II Di, 05.Feb 2008

Gesundheit/Arbeiterkammer/NÖ/Soziales/Krankheiten/Frauen

AKNÖ-Staudinger warnt: 60 % mehr Krankenstandstage durch psychische
Krankheiten

Utl.: Dienstleistungsgesellschaft fordert ihren Tribut: bei Frauen
bereits häufigste Krankheit =

Wien (AKNÖ) –
Von 1996 bis 2006 stiegen die Krankenstandstage durch psychische
Erkrankungen um 60 Prozent von 1,0 auf 1,6 Millionen an.
AKNÖ-Präsident Staudinger: „Das ist ein Alarmzeichen. Die ständige
Ausweitung von Öffnungszeiten, die immer weitere Flexibilisierung von
Arbeitszeiten und der aufgeweichte Rhythmus von Arbeits- und
Erholungszeit fordern offenbar ihren Tribut.“ Psychische Belastungen
sind bei Berufsunfähigkeitspensionen von Frauen bereits
Krankheitsursache Nr. 1.

Die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft bringt nicht nur Freude den
Konsumenten, sie führt zur Erschöpfung der meist weiblichen
Beschäftigten. AKNÖ-Gesundheitsexperte Dr. Bernhard Rupp, MBA:
„Während ein klassischer Arbeitsunfall eine Krankenstandsdauer von
18,8 Tagen nach sich zieht, dauert ein Krankenstand auf Grund einer
psychischen Überbelastung wie zum Buspiel Burn-out durchschnittlich
29,4 Tage.“

Zwtl: Grenze der Belastbarkeit erreicht

Ob Pflege-, Erziehungs- oder Dienstleistungsberufe: In den Berufen
mit einem besonders hohen Frauenanteil steht die Arbeit mit oder am
Menschen im Vordergrund. Bernhard Rupp: „Die Arbeit aus der Familie
setzt sich nahtlos im Beruf fort. Und das in vielen Branchen mit 6-
oder 7-Tage-Woche oder in Betrieben mit überlangen oder sogar
Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten. Die explodierenden Krankenstandstage
aus psychischer Überlastung zeigen, dass die Grenze der Belastbarkeit
erreicht ist.“ Die besonders langen Krankenstände führen immer öfter
in die Berufsunfähigkeitspension mit erheblichen Verlusten bei der
Pensionshöhe.

Zwtl: AKNÖ fordert Gesundheitsförderungsgesetz und Kooperation mit
Arbeitsmedizin
Die Niederösterreichische Arbeiterkammer fordert auf Grund dieser
alarmierenden Zahlen äußerste Zurückhaltung bei der weiteren
Flexibilisierung der Arbeitszeiten, und eine bessere Verbindung
zwischen Allgemein- und Arbeitsmedizinern. Die AKNÖ begrüßt daher die
Initiative von Sozialministerium an der FH Krems, die sich heute,
Dienstag und morgen unter Beteiligung der AKNÖ-Experten auf einer
Enquete mit dem Thema „Invalidität im Wandel“ beschäftigt.

Rückfragen: Dr. Bernhard Rupp, MBA: Tel. 0664 82 40 515

Rückfragehinweis:
AKNÖ Öffentlichkeitsarbeit
Tel.: (01) 58883-1247
mailto:peter.sonnberger@aknoe.at
http://noe.arbeiterkammer.at/

9.2.2008

Bemerkenswerte Aussage einer Reha-BeraterIn im Zusammenhang mit einer Unterschriftensammlung die das Weiterbestehen eines SÖB fordert!

Ga. G., Reha-Beraterin beim AMS-B. [per e-mail bestätigt]
Statement:
In meiner täglichen Arbeit habe ich viel mit Personengruppen zu tun, die aus arbeitsmarktpolitischer Sicht schwer bis kaum am ersten Arbeitsmarkt vermittelbar sind, sei`s aus psychischen, gesundheitlichen oder sozialen Gründen. Für diese KundInnen stellt ein Arbeitsplatz in einem sozialökonomischen Betrieb oftmals die einzige Möglichkeit dar, sich soweit zu stabilisieren und fit zu machen, um am ersten Arbeitsmarkt bestehen zu können. Damit wird ein weiteres Abrutschen (durch Arbeitslosigkeit) reduziert. Lt. einem heutigen Radiobericht haben in Vorarlberg in diesem Jahr (2006) bereits 20 Frauen + 50 Männer, den letzten Schritt durch Suizid gewählt. Als Grund/Auslöser wird Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Sinn- /Wertlosigkeit erwähnt. Das H. leistet großartige Arbeit in der Wiedereingliederung von Menschen mit Einschränkungen unterschiedlichster Art, gibt Struktur/Sinn/Halt/Wert im Leben.

Umso erstaunlicher, als man weiss, dass diese Sozialvereine Arbeitslose zu den angebotenen befristeten Dienstverhältnissen zwingen und bei Weigerung der Teilnahme über eine Rückmeldung an das AMS eine Bezugssperre (oft auch rechtswidrig) erwirken, um so u.a. bei der Zwangsbesetzung der Niedriglohnstellen und Statistikbeschönigung mitzuhelfen.
Einige Arbeitsloseninitiativen vertreten aus diesem Grund die Meinung, dass diese Unterdrückung, Entrechtung, in Verbindung mit dem sozialen-psychischen Abstieg in der Arbeitslosigkeit für den letzten Schritt zum Suizid verantwortlich ist!


Eine E-Mail Anfrage an den betroffenen Verein blieb bisher unbeantwortet!



An die Geschäftsführung von H*

Hatten die arbeitslosen Personen 2005 / 2006 die Möglichkeit ohne Bezugssperre eine Teilnahme zu verweigern?
Wievielen arbeitslosen Personen wurde auf Grund einer Teilnahmeverweigerung im Jahr 2005 / 2006 die Bezüge gesperrt?
Beruht 2007 die Teilnahme auf Freiwilligkeit?

Danke im vorraus für die Antwort



Eine sinnvolle hilfreiche Unterstützung verlangt eine freiwillige SÖB-Teilnahme!

4.04.2007



Arbeitsloser zu Tode gehungert.

Northeim (AP) Ein 58-jähriger Arbeitsloser aus Hannover hat sich auf einem Hochsitz im Solling zu Tode gehungert. Wie die Polizei in Northeim am Dienstag mitteilte, wurde der mumifizierte Leichnam des 58-Jährigen vergangenen Freitag nahe der Ortschaft Schlarpe im Solling auf einem Hochsitz an Rande einer Waldwiese entdeckt. Dabei sei auch ein Tagebuch gefunden worden, in dem 58-Jährige sein langsames Sterben auf dem Hochsitz dokumentiert habe, bestätigte ein Polizeisprecher einen Bericht der «Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen» aus Kassel.
Die Tagebuchaufzeichnungen berichten demnach von 24 Tagen ohne Essen, in denen 58-Jährige nur Wasser getrunken hat. Die Eintragungen enden am 13. Dezember vergangenen Jahres. In einer Art Letztem Willen verlangt der Autor, nach seinem Tod das Heft seiner Tochter zu übergeben.
Der 58-Jährige war früher als Außendienstmitarbeiter tätig. Seine Ehe scheiterte, er wurde arbeitslos und immer einsamer. Ab Oktober vergangenen Jahres erhielt er seinen Aufzeichnungen zufolge auch kein Arbeitslosengeld mehr. Daraufhin fuhr er mit dem Fahrrad von Hannover Richtung Süden. Auf dem Hochsitz in den 100 Kilometer entfernten Solling bezog er später auf Schaumstoffmatratze Quartier und trank nur noch Wasser.

Quelle: Yahoo-Nachrichten
15.2.2008

BRD: Depressiver Arbeitsloser verhungert in seiner Wohnung!

Hungertod durch Leistungsentzug


Aus Protest im AMS lebendig verbrannt!
Leibnitz, 12.3.1998

Wieviele Beschwerden und erschreckende Ereignisse auch an die Oberfläche kommen. Das AMS spricht weiterhin unberührt und teilnahmslos von Einzelfällen.

Stefan S., verheiratet und Vater von mehreren Kleinkindern, ist am 12.3.1998 im AMS Leibnitz unter lauten Protestschreien gegen die brachiale Leistungskürzung durch das AMS Leibnitz als Lebendfackel verbrannt, nicht zuletzt weil sein „persönlicher AMS-Betreuer“ die dringende und völlig verzweifelte Vorsprache von Stefan S. im AMS mit einem 10 Liter Kanister Benzin in der einen Hand und einem Feuerzeug in der anderen Hand für einen „Scherz“ hielt und er Stefan ob seiner Drohung bei Forsetzung der Leistungskürzung sich das Leben zu nehmen hohnlachend die Türe weisen wollte.
Der jetzige Chef des AMS Steiermark, Herr Snobe, war von dem Vorfall und dessen Vertuschung (der Öffentlichkeit wurde vorgegaukelt, der Rumäne Stefan wäre ausgezuckt, gar nicht soo wild verbrannt und werde im LKH Graz liebevoll betreut — dabei wurde der praktisch klinisch tote und aussen völlig verkohlte Stefan nur noch zum raschen Organraub in das LKH transferiert) voll informiert (und über „lebensfeindliche“ Weisungen) und betreut die weitere Rückhaltung der Infos über Stefan S. Die „VALI“ (damalige Vereinigte Arbeitsloseninititiative in Wien) hat den Vorfall jedoch genauestens recherchiert (Stefan S. war zuletzt als Bauarbeiter bei der Firma Sturm in Gamlitz beschäftigt) und auch einen Vermerk auf der Arbeitsschutz-HP vornehmen lassen
http://www.geocities.com/europanth/flamme.html
und eine Spendenaktion für die unversorgte Familie von Stefan (zumal der ÖGB grade mal 1000 öS spendierte) gestartet.
Nochmals wird auf den Kontakt Snobe, AMS Steiermark, verwiesen. Auch der nunmehr pensionierte damalige AMS-Chef Hellfried Faschingbauer sowie Herr Lerchenmüller vom AMS Österreich sind bestens über den wahren Inhalt der Angelegenheit Lebendfackel Stefan S. informiert. Ebensfalls bestens in Erinnerung ist der Vorfall den Angestellten des AMS Leibnitz, das zur Verhinderung ähnlicher Vorfälle nicht etwa seine ausländerfeindlichste „Grenzlandpolitik“ verändert hätte, sondern nunmehr noch grössere, noch zuckelrötere Mammutfeuerlöscher in den AMS-Kundenverkehr3räumlichkeiten noch höher hängen hat.

10.12.2005

Arbeitsloser tötet sich vor Arbeitsagentur
10. Nov 2004 17:31


Mit einer geöffneten Gasflasche auf dem Beifahrersitz ist ein Mann in Baden-Württemberg in das Gebäude einer Arbeitsagentur gefahren. Er kam dabei ums Leben.


Ein Mann hat sich im baden-württembergischen Bietigheim-Bissingen vor der regionalen Arbeitsagentur selbst getötet. Er fuhr nach Angaben der Polizei am späten Dienstagabend mit seinem Auto gegen den Haupteingang des Gebäudes. Das Fahrzeug explodierte. Die Arbeitsagentur selbst blieb unbeschädigt, weil sich deren Räume im oberen Stockwerk des Hauses befinden.

Nach ersten Erkenntnissen hatte der Mann eine Gasflasche auf dem Beifahrersitz deponiert und den Gashahn geöffnet. Er verbrannte bis zur Unkenntlichkeit. Die Polizeidirektion Ludwigsburg geht davon aus, dass es sich bei dem Selbstmörder um einen 51 Jahre alten gelernten Fernmeldehandwerker aus Sachsenheim handelte.

Finanzielle Probleme

Er war seit einiger Zeit arbeitslos. Seit Ende Oktober habe ihm die Arbeitsagentur kein Geld mehr ausgezahlt, weil es Unklarheiten darüber gegeben habe, ob dem Mann überhaupt Arbeitslosengeld zustehe, hieß es.

Der geschiedene 51-Jährige wäre jedoch laut ersten Ermittlungen noch nicht unter die Hartz-IV-Regelungen gefallen. Als weiteres Motiv kommen laut der Polizei finanzielle Schwierigkeiten des Mannes in Frage. (nz)

Quelle: Netzzeitung

26.08.2005

Selbstmord wegen Hartz IV

Wie versprochen, poste ich meinen Zeitungsartikel für die neue Linksruck-Ausgabe über den Selbstmord in Höxter:

„Um jedes Menschenleben kämpfen“

Sozialabbau treibt Menschen in den Tod: In Höxter hat sich ein arbeitsloser Familienvater wegen Hartz IV umgebracht. Von Frank Eßers

Wie Hartz IV jemanden zum Äußersten treiben kann, musste Margit Marion Mädel Ende Januar erleben. Den Mann, der vor ihrer Haustür in Höxter steht, kennt sie. Ihn und seinen Freund hat sie einige Male bei den Protesten gegen die so genannten „Arbeitsmarktreformen“ getroffen, auch mit beiden gesprochen.

Denn Margit ist in der Kleinstadt als Mitorganisatorin der Montagsdemos gegen Hartz IV bekannt und im „Bündnis Dreiländereck für soziale Gerechtigkeit“ sehr aktiv. Was ihr der Mann dann berichtet, kann sie kaum fassen: Sein Freund, ein 54-jähriger Familienvater, hat sich vor zwei Tagen im Keller erhängt – wegen Hartz IV. Er hinterlässt seine Frau und zwei Kinder.

Neben der Leiche lag ein Zettel als letzte Nachricht. Auf dem stand nur ein Begriff: „Hartz IV“. Der Mann war Maurer und seit vier Jahren arbeitslos, nachdem die Firma, bei der er gearbeitet hat, dichtgemacht wurde.

Er sei ständig auf der Suche nach einer neuen Stelle gewesen, jedoch erfolglos, erzählen Bekannte. „Sein Antrag auf Arbeitslosengeld II ist abgelehnt worden“, sagt Margit gegenüber Linksruck. Das und die Verzweiflung über die vergebliche Arbeitssuche waren zu viel für ihn.

Margit ist sicher, dass die Arbeitslosigkeit schon mehrere Menschen in den Tod getrieben hat. Kurz nach dem Selbstmord des arbeitslosen Maurers „rief mich ein Mann aus dem nahe gelegenen Bevern an. Er klang völlig verzweifelt. Dann sagte er: >Mir bleibt nur noch die Kugel. Ich mache auch Schluss!< Zum Glück konnte ich ihn beruhigen.“

Seit zwei Jahren sei er arbeitslos und alle Bewerbungen wären umsonst gewesen, erklärt Margit: „Auch sein Antrag auf das neue Arbeitslosengeld ist abgelehnt worden. Und als er Widerspruch eingelegt hat, sagte ihm der Sachbearbeiter der Arbeitsagentur: >Sie müssen noch warten, erst sind andere Fälle an der Reihe. Bei ihnen kann es ein halbes Jahr dauern.<“

Der Arbeitslose und seine Familie können aber nicht warten. Sie hatten ein Haus gebaut und müssen Schulden tilgen. Den Antrag auf Arbeitslosengeld hat die Agentur abgelehnt, weil seine Frau angeblich zu viel verdiene. „Jetzt müssen die beiden von weniger leben als ein Hartz-IV-Empfänger hat“, erzählt Margit, „weil alles vom Geld der Frau bezahlt werden muss.“

Seit dem Selbstmord ist Margits E-Mail-Postfach voll. Ein Anti-Hartz-Aktivist aus Minden hat ihr geschrieben, dass es nun noch wichtiger sei, sich für die Betroffenen einzusetzen: „Jedes Menschenleben ist es wert, dafür zu kämpfen.“

Auch Margit organisiert weiter Proteste in Höxter. Das sei unbedingt nötig, sagt sie: „Ich will nicht daran denken, was noch alles kommt. Die da oben werden den Armen noch mehr wegnehmen.“

Quelle: Linksruck.

30.09.2005


Themenbezogener Ausflug in die Schweiz

Selbstmord in der Schweiz – empirische Analyse

Arbeitslosigkeit wird meist als ein Mass für Durkheims Anomie betrachtet. Der Verlust der Arbeit führt zu einer Störung der sozialen Rollen und Beziehungen (vgl. Boor 1980). Generell besteht eine Übereinstimmung, dass Arbeitslosigkeit Suizid erhöht (Boor 1980; Breault 1986; Stack 1987). Dies weil Arbeitslosigkeit in einer plötzlichen Deprivation resultiert und das Selbstmordpotential durch den Verlust von Status, Einkommen, Freundschaften unter Mitarbeitern und arbeitsbezogenem Sinn steigt. Betroffen sind vor allem die Familienmitglieder eines arbeitslosen Familienoberhauptes, alle die befürchten ihren Job zu verlieren, und die frustrierten Neu- und Wiedereinsteiger in den Arbeitsmarkt, für die es keine Arbeit gibt. Arbeitslosigkeit kann zudem Familien zwingen ihren Wohnort zu wechseln, und dies bricht ihre Bindung zur Gemeinschaft und erhöht das Selbstmordpotential. (vgl. Stack 1982)

Hypothese 8: Je höher die Arbeitslosigkeit in einem Kanton, um so höher ist dieSelbstmordrate

Untersuchungen aus den USA zeigen, daß Arbeitslosigkeit sowohl physisch als auch psychisch zu einer Beeinträchtigung der Gesundheit führt. Vermehrte Herzkrankheiten, Alkoholismus und sogar Selbstmord sind nur einige Beispiele.

Auf Grund von Arbeitslosigkeit und Selbstüberschätzung, wurde mir klar, dass Selbstmord eine logische Konsequenz sein musste.

Die Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit, Armut und psychischen Störungen ist eines der am besten abgesicherten Resultate der epidemiologischen Forschung. Zahlreiche Studien bestätigen, dass hohe Depressionsraten besonders bei Personen mit ökonomischen Problemen gefunden werden. Männer weisen höhere Erkrankungsraten für antisoziale und impulsive Persönlichkeitsstörungen, Alkoholmißbrauch und Schizophrenie auf. Auch Selbstmord als Resultat einer Depression kommt öfter bei Männern vor.

(GESUNDHEITSBERICHT FÜR WIEN 1997).

Die Zahl der Suizidfälle steigt seit 1970 vor allem bei jungen Männern an. Die steigende Anzahl von jungen Männern, die unverheiratet bleiben oder geschieden werden, erklärt etwa 50 % des Anstiegs der Suizide zwischen 1970 und 1980. Diese Altersgruppe der Männer war von einer hohen Arbeitslosenrate, einer steigenden Rate an Alkohol- und Drogenmißbrauch, von Kontakt mit bewaffneten Auseinandersetzungen und dem HIV-Virus betroffen. Ob diese Faktoren einen Anstieg der Suizidrate erklären, ist noch nicht restlos untersucht. Die Verbindung zwischen Arbeitslosigkeit und Suizid ist ebenfalls noch nicht vollständig geklärt, es wird aber eine indirekte Verbindung über Faktoren wie psychologische Vulnerabilität oder andere Probleme, die aus Arbeitslosigkeit resultieren, angenommen.

Selbsttötung aus Verzweiflung und Hilflosigkeit

Jährlich nehmen sich allein in Oberösterreich etwa 300 Menschen das Leben. Dreiviertel davon sind Männer, die zumeist nicht sonderlich aufgefallen sind.
Die unmittelbaren Auslöser

Motivanalysen zeigen eine Vielfalt von Erklärungen für das Faktum der Selbsttötung. Häufig genannt werden unter anderem: – die Hilflosigkeit und Panik bei Beziehungskrisen, die zu Scheidung oder zum Verlassenwerden führen; – gesundheitliche Schwierigkeiten (Depressionen) verbunden mit diffusen Ängsten vor allem bei zunehmendem Alter; – ein verstärkter Druck im Arbeitsbereich verbunden mit der Unsicherheit des Arbeitsplatzes; – persönliche Überforderungen durch spekulative Transaktionen und berufliches Scheitern bis hin zur Arbeitslosigkeit; – die belastende Situation des „einsamen Wolfes“, dem mitmenschliche Wärme und Kontakte verloren gegangen sind. Vor allem, wenn sich die genannten Umstände mehr oder weniger bündeln, entsteht ein hohes Selbstgefährdungs-Risiko, das in Verbindung mit Suchtmittelmissbrauch geradezu explosiv werden kann und die Gefühle der Ausweglosigkeit, der Hoffnungslosigkeit und die negative Sicht des Lebens mitunter ins Unerträgliche steigert.

29.08.2005

Suizid: In Österreich nahmen sich im Jahr 2003 ca. 1500 Menschen das Leben! dem gegenüber ca. 15 000 Suizidversuche.
Die Situation aus der ein Suizid entsteht, hat fast immer Merkmale einer Depression. Wobwi in vielen Fällen die Lebensumstände wie Arbeitslosigkeit Einsamkeit und Beziehungslosigkeit zu Suizidabsichten führen.
Quelle: Rundschau – Primar Hans Rittmannsberger, Wagner Jauregg – Linz.

14.11.2005



Aus der Welt der Wissenschaft (2005)
Medizin und Gesundheit

Arbeitslosigkeit schädlicher für Herz als Rauchen

Die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes und Bevormundung durch
Vorgesetzte führen in einer globalisierten Wirtschaft zu immer mehr Fällen
von Depression und Herzerkrankungen.

Wissenschaftler berichteten beim Weltkongress für Psychiatrie in Kairo, je
weniger ein Angestellter Arbeitsabläufe und seine berufliche Zukunft selbst
beeinflussen könne, desto höher sei das Risiko einer Erkrankung.

So belegt eine Studie aus Ungarn, dass zum Beispiel selbst das Rauchen das
Herzinfarktrisiko weniger stark beeinflusst als Arbeitslosigkeit oder die
Angst vor dem Jobverlust.

Angst vor Entlassungen

Bei einer Untersuchung in drei brasilianischen Großstädten fanden Psychiater
zudem heraus, dass vor allem männliche Angestellte stark unter Unsicherheit
leiden.

„Sie haben Angst, dass sie, wenn sie laut Kritik üben, als nächste dran
sind, wenn wieder Stellen abgebaut werden“, sagte die Leiterin der Studie,
Ana Maria Rossi, von der Internationalen Stress-Management Vereinigung
Brasiliens.

Lebenserwartung erniedrigt

In Ungarn hat der durch den wirtschaftlichen Umbruch ausgelöste Stress in
den vergangenen 15 Jahren nach Ansicht von Maria Kopp von der Semmelweis
Universität (Budapest) zu einer deutlich niedrigeren durchschnittlichen
Lebenserwartung geführt.

Hauptstressfaktoren seien dabei Zweit- und Drittjobs, zusätzliche Arbeit am
Wochenende, sowie die fehlende Möglichkeit, die berufliche Zukunft zu
planen.

Psychische Störungen mitunter tödlich

In Japan leiden die Angestellten auch darunter, dass traditionelle Regeln am
Arbeitsplatz immer weniger Gültigkeit haben. Dazu zählen nach Ansicht
japanischer Psychiater der Wegfall des Senioritätsprinzip bei der
Beförderung, sowie der früher eher unübliche Wechsel von einem Arbeitgeber
zum nächsten.

Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind
„psychische Probleme und durch Stress ausgelöste Störungen in Europa der
wichtigste Grund für frühzeitigen Tod“.

[science.ORF.at/dpa, 12.9.05]
Das Stichwort Arbeitslosigkeit im science.ORF.at-Archiv
ORF ON Science : News : Medizin und Gesundheit
http://science.orf.at/science/news/140300

12.03.2007

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